PRESSE
Das Stück hatte im Mai mit einem kleinen Ausschnitt im Paderborner Dom von uns unbeabsichtigt einen viel beachteten Skandal ausgelöst – und eine bundesweite Diskussion über künstlerische Freiheit angestoßen. Darüber berichteten unter anderem The Washington Post, Neue Zürcher Zeitung, Der Spiegel und Bild.
Alles Wurscht
Gewohnt drastisch: „Westfalen Side Story“ von Bodytalk und Reisa Shimojina
Nach dem Skandal im Paderborner Dom um tanzende Hähnchen widmet sich Boytalk jetzt im Pumpenhaus dem Schwein zum 1250-jährigen Jubiläum Westfalens. Es ist zugleich das Deutschland-Debüt der japanischen Choreografin Reisa Shimojina.
Torben Ibs
Münster, 27/09/2025
„Ich habe jetzt hauchdünn geschnittene Flachwitze für Sie. Auf dem Weg zu Arbeit heute habe ich paniert, ich hatte ein Hähnchen im Kühlergrill. Meine Lieblingssendung ist: How I Mett your Mother.“ Über Minuten erzählt und kalauert René Haustein in diesem Stil dahin, während sich am Boden Tirza Ben Zvi mit aufgesetzter Schweinsnase grunzend über diese Einlagen amüsiert – als fast Einzige im ausverkauften Pumpenhaus in Münster.
Zugleich ist es einer der ruhigeren Momente dieser „Westfalen Side Story“, die Bodytalk zusammen mit der japanischen Choreografin und Tänzerin Reisa Shimojima erarbeitet hat. Yoshiko Waki, neben Rolf Baumgart Gründerin von Bodytalk, hatte Shimojima bei einem Festival in Japan kennengelernt und nach Münster eingeladen. Shimojima hat bereits internationale Erfahrungen in Taiwan und Korea gesammelt, aber das wurstlastige Westfalen ist dann doch eine Herausforderung. Zusammen mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Nanako Oizumi bilden sie ein japanisches Dreiergespann, das nun diesen Abend im Rahmen des Jubliäums 1250 Jahre Westfalen präsentieren. Bereits zum offiziellen Festakt im Dom von Paderborn waren sie mit dabei, und ihr Beitrag mit tanzenden Hühnchen in Windeln vor dem Altar produzierte einen veritablen Shitstorm. Daher geht es diesmal nicht um Hühnchen, sondern primär um's Schwein und die Würste, die man daraus machen kann.
Ballernde Bilder und Assoziationstsunamis
Der Start ist allerdings erstmal fröhliches Volksfest. Zu dem Euro-Disco-Kracher „Stamp on the Ground“ der Italo-Brothers (mit Live Drums von Rafael Weisz, der später auch an der E-Gitarre brilliert) aus dem benachbarten Nordhorn refigurieren sie eine einwandfreie Disco-Dance-Nummer, bei der die Tanzenden sich aber irgendwie in Pferde verwandeln.
Dabei steht doch eigentlich das Schweine-Wurst-Land im Vordergrund. Etwa in Form der Wurstmaschine, wo das Publikum Zeuge einer Live-Wurstproduktion wird, die einem Performer mit Schweinekopf galgengleich, um den Hals gewickelt wird. Maskenköpfe und Menschenkörper werden mit Schinkenscheiben belebt, ein roter Wurstgott tritt in einer an brasilianischen Karneval erinnernden Beschwörungsnummer auf, die abgeschlossen wird von einem japanischen Reigentanz. Es gibt die angedeutete Ausweidung eines Schweines mit Herz, Darm und Eingeweiden, und unter dem pendelnden Herz taucht schließlich Tirza Ben Zvi ab. Drastisches kombiniert sich mit Lustigem, Visuelles mit Olfaktorischen. Bodytalk ist hier ganz bei sich und lässt Tanzende wie auch das Publikum kaum zu Atem kommen, angesichts der auf alle ballernden Bilder und den daraus folgenden Assoziationstsunamis.
Hinreißend gelingt eine Parodie auf das „America“ der West Side Story, da sich ja der Songtitel auch auf den Namen eines großen Lebensmittelhändlers reimt und Bodytalk dessen große Motivation in der Fleischherstellung fachgerecht und facettenreich besingt. Schließlich darf ein Zuschauer entscheiden, wie die Tänzerin Amy Pender zu Wurst verarbeitet wird, bloß damit schließlich das gesamte Ensemble in Wurstnetze gehüllt über die Bühne springt. Besonders augenfällig ist der tänzerische Neuzugang Kenji Shinohe, der nicht nur äußerst gewandt und sich für Bodytalk ungewohnt grazil über die Bühne bewegt und zudem mit seinem Grimassieren besonders die komischen Parts ungemein bereichert.
Das letzte Schwein
Anders als sonst in Bodytalk-Produktionen bleibt sich hier die Gruppe einem Thema treu und durchwandert in drastischen aber auch überzeugenden Bildern die Region der Wurst. Dies geschieht auch abseitig mit wehenden Buschgestalten bis zu brutal zubeißenden Wurstzombies, die sich die Hautstreifen von den nackten Leibern nagen. Wurst statt Brain! Das letzte überlebende Schwein des Wurst-Komitees ruft schließlich verzweifelt: „Wir brauchen keine Wurst mehr.“ Tatsächlich ist auch eingefleischten Nicht-Vegetariern der Appetit auf Fleischwaren nach dieser 60-minütigen Attacke erst einmal vergangen.
© Meike Reiners